Iceland Airwaves 2023 – Tag 2 (03.11.2023)

Nach dem vielversprechenden ersten Tag des Festivals steht am zweiten Tag zumindest der eine oder andere Name auf dem Zettel, von dem ich schonmal gehört habe. Mal schauen, ob das Airwaves das bisher hohe Niveau halten kann.

Der erste Termin läuft zunächst wieder abseits des offiziellen Programms. Aufgrund persönlicher Verpflichtungen von Mitgereisten verschlägt es mich in den rappelvoll gepackten Salon des Hótel Holt.

Benni Hemm Hemm & Óháði Kvennakórinn

Dabei handelt es sich um einen Musiker und einen etwa zwanzigköpfigen Frauenchor, die unter dezenter instrumentaler Begleitung Lieder singen. Alles inklusive der Zwischenansagen auf isländisch, insofern habe ich keine Ahnung, ob es da um die große Liebe, die schöne Landschaft, oder die Gefühlswelt im arktischen Winter geht. Da ich aber ein Faible für schönen Harmoniegesang habe, komme ich dennoch auf meine Kosten. Da der Chor im Halbkreis etwa zwei Meter vor mir singt, kommen auch die unterschiedlichen Stimmlagen aus verschiedenen Richtungen sehr gut zur Geltung – binaural nennt man das ja neuerdings.

Óháði Kvennakórinn

Die Nähe zum Geschehen bedeutet aber leider auch, dass ich in unbequemster Stellung auf dem Teppichboden sitze, sodass mir nach kurzer Zeit das Bein entschläft. Nach etwa einer halben Stunde gibt es eine Pause, in der ich mich dann doch schnell aus dem Staub mache, da ich mir weitere Konzerte vorgenommen habe.

JFDR

JFDR

Die nächste Künstlerin ist mir schon das eine oder andere Mal untergekommen, wenngleich ich nicht besonders tief in ihrer Diskografie stecke. JFDR steht für die isländische Singer-Songwriterin und Komponistin Jófríður Ákadóttir, die sich musikalisch zwischen klassischen und elektronischen Klängen bewegt. Wem die Stimme von Björk gefällt, deren Sound aber zu experimentell findet, der könnte mit JFDR eine gute Annäherung finden.

Sie hat zwar auch noch einen offiziellen Slot im Festivalprogramm, ist heute aber ohne Lichtshow und Schnickschnack in Begleitung ihrer Schwester an Tasten und dreier Streicherinnen in einer Edelboutique zu hören. Einerseits finde ich es ja ganz charmant, Musik an unkonventionellen Orten lauschen zu können. Andererseits hilft es aber auch nicht viel, zwar nur zwei Meter von der Band entfernt zu stehen, aber trotzdem nichts zu sehen. So bleibt mir also nur, JFDRs Klängen zu lauschen, unterbrochen vom arhythmischen Kläffen ihres Hundes, der vor der Tür warten muss. Davon abgesehen ist das Konzert zwar schön, aber recht unspektakulär.

Anspieltipp: Instant Patience

Pastiche

Pastiche

Weiter geht’s ins KEX-Hostel, das zu den offiziellen Bühnen gehört. Dort habe ich mir Pastiche vorgenommen, von der ich vorher noch nichts gehört habe, aber deren Beschreibung als „brazen, fiery and memorable“ mein Interesse geweckt hat.

Und es wird schnell klar, dass die junge Irin tatsächlich Feuer hat. Ihre Performance strotzt vor Selbstbewusstsein und Energie, und auch musikalisch ist das nichts zum Stillhalten. Beschreiben kann ich das nur als mit allerlei Zwei- und Eindeutigkeiten betexteten Pop mit einem Händchen für groovige Basslines – durchaus Stank-Face-Potenzial.

Anspieltipp: Disco Junky

Slowshift

Slowshift

In der Fríkirkjan geht es anschließend weiter mit Slowshift. Die weckten mein Interesse, da Schlagzeuger Tomas Järmyr mir noch von seiner Zeit bei Motorpsycho in Erinnerung geblieben ist. Ansonsten besteht die Kapelle noch aus Kristoffer Lo (ehemals Highasakite), Brynjar Leifsson (Of Monsters and Men) und einem Streichorchester.

Ich muss allerdings gestehen, dass mich das Konzert trotz der vielversprechenden Namen nicht von der Holzbank gehauen hat. Die Musik war mir ein bisschen zuviel mit Pathos aufgeladen, und zu sehr störte ich mich an den selbstbeweihräuchernden Anwandlungen Kristoffer Los, der es sich nicht nehmen ließ, sich in gleicher Pose wie das Altar-Gemälde hinter ihm beklatschen zu lassen.

Anspieltipp: Every Kind of L

neonme

Zurück im KEX steht die Isländerin neonme auf dem Programm, wieder einer der wenigen Namen, die mir vorher schonmal untergekommen sind. Aufgrund ihrer Kollaborationen und anderen Musikprojekte könnte sie zu den Künstler*innen gehören, die am häufigsten beim diesjährigen Airwaves auf der Bühne standen. Ihre Band CYBER hatte jedenfalls auch zwei Slots, und ich sollte sie auch noch auf einem weiteren Konzert sehen.

neonme

neonmes Solo-Material kann man getrost „experimentell“ nennen, langsam, elektronisch und trotz dem sie auf Englisch singt schwer zugänglich. Sie ist sich auch nicht zu schade, ihre Stimme durch Autotune auf Anschlag zu verfremden. Durch das Konzert kann ich aber zumindest bestätigen, dass neonme auch ohne Autotune eine sehr vielseitige Gesangsstimme hat und diese einzusetzen weiß.

Leider ist ihr Material aber zu langsam, um den Raum mit klappernder Bar gänzlich in den Bann zu ziehen. Ihr extravaganter Dress und die Tanzperformance sind aber ein Hingucker.

Anspieltipp: If I remember

Blondshell

Gleich noch ein „bekannter“ Name, die Kalifornierin Blondshell spielt mit Band auf einer der größeren Bühnen. Deren gelangweilt hingehauchten Indie-Rock finde ich auf Kopfhörern gar nicht so schlecht, also mal schauen, was da live geht.

Blondshell

So recht überzeugen kann mich das hier aber nicht. Die Band auf der Bühne erweckt den Eindruck, als ob sie gerade gern woanders wäre. Und beim Gesang Sabrina Teitelbaums fällt mir stark auf, dass sie konstant am Ende und unterhalb ihres eigentlichen Stimmumfangs singt. Außerdem variiert sie im Prinzip nur über eine halbe Oktave – das kann man als Stilmittel und Alleinstellungsmerkmal verstehen, wirkt aber auf die Dauer ziemlich eintönig. Das eine oder andere Stück finde ich ganz gefällig, aber ein Album am Stück schaffe ich nicht.

Anspieltipp: Kiss City

Den ganzen Tag unterwegs und schon seit Stunden nur gestanden macht sich mein Rücken langsam bemerkbar. Es ist fast Mitternacht und eigentlich Zeit, den Tag zu beenden, obwohl noch ein Name auf meinem Zettel steht. Na okay, liegt ja quasi auf dem Heimweg…

Faux Real

Der Ankündigungstext versprach eine „wild and unhinged avant-garde anti-rock performance“. Ja nee, is‘ klar, Marketingtexte werden immer seltsamer. Aber gut, schau ich mal im unterdessen gut muckeligen Iðnó rein.

Faux Real

Da betreten zwei bauchfrei und in weiß gekleidete durchtrainierte Typen die Bühne und es beginnt eine Playback-Performance zu tanzbarem Vierviertel-Elektro. Ich bin zwar gekommen wegen der schrägen Beschreibung, aber ich bleibe, weil ich sehen will, was die Typen da veranstalten. Und nach wenigen Minuten wird klar, es war eine gute Idee, sich darauf heute nochmal einzulassen.

Faux Real

Die Musik ist hier tatsächlich nicht das entscheidende. Aber was Virgile und Elliott Arndt für eine Show abziehen, sucht bisher auf dem Airwaves seinesgleichen. Das komplette Konzert ist durchchoreographiert, die Oberteile werden nach wenigen Stücken abgelegt und der Schweiß tropft aus allen Poren. Nachdem die ersten Gäste gegangen sind (denen das ganze wohl zu albern oder homoerotisch erschien), bleibt ein Saal an Leuten übrig, die die beiden dankbar feiern. Das Publikum wird in die Choreographie einbezogen, und mehrfach drehen sie ihre Runden quer durch die Zuschauer. Zum Finale bildet sich eine Gasse, in der Faux Real auf und ab tanzen und springen als gäb’s kein Morgen. Das ist das mit Abstand meist-fotografierte Airwaves-Konzert, auf dem ich bisher zugegen war.

Es ist schwer zu beschreiben, wenn man nicht dabei gewesen ist, aber ich komme nicht umhin, anschließend Faux Real jedem zu empfehlen. Diese Performance muss man sich live mal gegeben haben, mit Abstand mein Highlight des Tages. Der Anspieltipp kann dem ohne das Spektakel drumrum nicht gerecht werden.

Anspieltipp: Full Circle

Fazit

Der zweite Tag war etwas durchwachsener als der erste, hatte aber durchaus auch seine Höhepunkte. Von den Neuentdeckungen werde ich Pastiche und Faux Real auf jeden Fall im Auge behalten.


Iceland Airwaves 2023
Donnerstag (02.11.2023) | Freitag (03.11.2023) | Samstag (04.11.2023)

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